Rotwild - Flucht in die Wälder – und jetzt?

Rotwild aus anderer Perspektive

Ruhendes Rotwild auf einer Äsungsfläche im Sommer.                                        Foto: NABU Euskirchen

Wir Menschen können eine Menge dafür tun, dass die letzten Rotwildbestände in Ruhe leben können. Nimm Dir Zeit diesen Artikel zu lesen und stell Dir dabei auch bildlich vor, was Dir ein erfahrenes weibliches Leittier, ein Hirschkalb oder ein stolzer Hirsch aus der jeweiligen Perspektive heraus zu erzählen hat:

 

„Wir sind die größte Säugetierrasse in der Eifel und leben in Familienverbänden den sogenannten Hirsch- und Kahlwildrudeln friedlich zusammen. Einmal im Jahr, der sogenannten Brunftzeit, im September/ Oktober treffen wir uns an speziellen Plätzen. In dieser Zeit werden unsere Familien neu geordnet und zusammengestellt. Jetzt geben die Hirsche den Ton an und finden untereinander heraus, wer das Sagen hat und wer von ihnen seine Gene weitergeben darf.

 

Vor langer Zeit lebten wir Hirsche (Geweihträger), unser Kahlwild (weibliches Rotwild) und unsere Kälber frei auf den unzähligen Gras- und Wildblumenwiesenflächen überall in Deutschland. Ursprünglich sind wir Steppentiere.

Wir waren frei zu wandern, wohin wir wollten

Als der Mensch sesshaft wurde, teilte er bereitwillig die Wiesen mit uns und seinem Weidevieh. Alles was er darüber hinaus vom Grasland brauchte, war die zweimalige Heuernte im Sommer und Herbst. Unser Fleisch war für den Menschen besonders wertvoll. Die Wiesen gehörten zu uns und wir gehörten zu den Wiesen. Wir waren frei zu wandern, wohin wir wollten. Es gab genug Lebensraum.

 

Unsere Fernwechsel verbanden die belgischen Wälder mit der Eifel bis hin zu den Rheinterrassen. Als der Rhein noch ursprünglich, mit Auenwäldern und versandeten Seitenarmen links und rechts der Ufer gelegen war, konnten wir in trockenen Sommern sogar aufs andere Ufer bis in die Wahner Heide nahe Köln gelangen und weiterziehen. Unser Genpool war auf weite Gebiete ausgedehnt. Das ist nach wie vor wichtig für die Erhaltung unserer Art und macht uns resistenter gegen Krankheiten.

 

Heutzutage dürfen wir nur noch in den sogenannten Rotwildbezirken leben, da der Mensch im Laufe der letzten Jahrhunderte immer mehr Land beansprucht, wurden wir zunehmend von unserem angestammten Lebensraum zurückgedrängt. Unüberwindbare Autobahnen und Straßen machten uns artgerechte Streifzüge zur Nahrungsbeschaffung unmöglich. Glücklicherweise liegt einer der letzten großen zusammenhängenden Rotwildbezirke hier in der Nordeifel. Dennoch ist es nichts anderes als ein Reservat.

 

Die Wildbrücke über der A1 zwischen Nettersheim und Blankenheim ist ein Zugeständnis des Menschen an unsere Lebensweise. Nach vielen Jahrzehnten wurde endlich ein Lückenstück dieses uralten Fernwechsels geschlossen. Er hilft natürlich auch den anderen wildlebenden Tieren.

 Fliehende Hirsche auf der Sommerwiese                                                            Foto: Claudia Rapp-Lange

Dennoch werden wir weiterhin durch die zunehmende Bebauung, intensive Landwirtschaft, Hobby- und Freizeitgesellschaft von unseren angestammten Wiesen tagsüber aufgescheucht, vertrieben und in die Wälder abgedrängt.

 

Wir müssen tagsüber unseren angestammten Lebensraum verlassen und in die umliegenden Forste flüchten. Wir haben uns den Verhältnissen angepasst, um zu überleben.

 

Der Wald ist mittlerweile unser Hauptlebensraum. Nur noch nachts, wenn Ihr Menschen schlaft, wagen wir uns auf die Wiesen zurück – aber nur, wenn wir uns sicher fühlen. Im Winter ist das besonders hart, denn das Gras wächst erst wieder im April nach. In der dunklen Jahreszeit finden wir viel weniger Nahrung (Äsung). Wir müssen jeden Winter Kräfte und Energien sparen. Für den Winter haben wir einen Überlebensmechanismus entwickelt. Wir verlangsamen unseren Stoffwechsel und reduzieren unsere Bewegungsaktivität um Energie zu sparen und uns so an das reduzierte Nahrungsangebot in der Natur anzupassen. Bis zum Frühsommer ist es besonders wichtig, dass wir ausreichend große Rückzugsorte haben, in den wir Ruhe und Sicherheit finden.

  Aufmerksame Hirschkühe bei der Futtersuche im Winter                        Foto: Claudia Rapp-Lange

Wir sind vorsichtige, wachsame Tiere. Fluchttiere. Tagsüber lassen wir uns nur selten sehen, denn auf offenem Wiesengelände lauern zu viele Gefahren. Als Wiederkäuer sind wir darauf angewiesen, dass wir in Ruhe über mehrere Stunden unsere Nahrung verdauen können. Dabei lassen wir uns in einer sicheren Umgebung auf den Boden kauend nieder. Stundenlang.

 

Schon das leiseste Knacken eines Astes und das Rascheln von Laub am Boden, bedeutet im Wald Gefahr. Ist da schon wieder ein Hund auf unserer Fährte? Oder folgt ein Mountainbiker unserem Wechsel und hält ihn für einen Bike-Trail?

 

Ihr Menschen könnt Eure Haus- oder Wohnungstür jederzeit schließen. Ihr seid sicher, dass Euch niemand beim Essen stören wird. Euch wird niemand laut bellend verfolgen oder gar nach Eurem Leben trachten. Ihr könnt nachts in Ruhe schlafen. Und habt sogar die Möglichkeit rund um die Uhr die Polizei zu rufen, die Euch Schutz gewährt.

 

Wir haben das alles nicht. Wir sind auf uns allein gestellt. Fluchtbereit. Jederzeit, auch am helllichten Tage. Verstecke und Dickungen bieten uns hier Schutz und Tarnung. In diesem Lebensraum haben wir uns seit Generationen zwangsweise auf Waldnahrung umstellen müssen. Da in den Wäldern aber nicht viel Grünfutter am Bodenwächst, sind wir auch auf Baumnahrung angewiesen: Ja, auch schwerverdauliche Baumrinden, raue und zähe Pflanzenteile sowie Blatttriebe halten uns am Leben.

 

Glaubt uns, wenn wir die Wahl hätten, würden wir sofort den Wald verlassen und auch tagsüber unsere angestammten Plätze auf den saftigen Wiesen einnehmen. Hier ist unser artgerechter Lebensraum, hier fühlen wir uns wohl. Wir können alles überblicken und haben unsere Jungtiere im Auge. In den Wäldern ist das ungleich schwieriger. Wir sind immer auf der Hut. Wir können uns nie sicher sein, denn wir sind nicht sicher. Nie!

Spaziergänger mit freilaufenden Hunden sind für uns das größte Problem

 Drei aufmerksame Hirsche auf der Sommerwiese                                      Foto: Claudia Rapp-Lange

Leinen sind heutzutage unter den meisten Hundebesitzern verpönt. Mittlerweile propagieren sogar viele Hundetrainer, auch die prominenten, den freilaufenden Hund in der Natur. Es ist ihr Geschäftsmodell und sie können noch mehr unsinnige Ratgeberbücher verkaufen und Kurse anbieten. Dabei kommt für die Hundebesitzer und ihre vierbeinigen Lieblinge nur noch mehr Stress heraus. Wir wilden Tiere erleben es tagtäglich unter Lebensgefahr!

 

Der vierbeinige Liebling soll sich frei bewegen, seinen Spaß haben und sich so richtig verausgaben, damit er sich zu Hause ruhig verhält und wieder ausgeglichen ist. Viele Hundebesitzer haben noch nicht mal mehr eine Leine dabei, im festen Glauben daran, dass sie alles richtig machen.

 

Haben diese Hunde erst einmal die Fährte aufgenommen, folgen sie ihrem Jagdinstinkt und suchen auf unseren Pfaden, den Wechseln, nach uns. Hunde haben hervorragende Nasen und finden uns. Unser Rudel ist dann nicht mehr sicher und flüchtet in Panik. Nur die erfahrenen Leittiere können das Rudel zusammenhalten und in Sicherheit bringen.

 

Das ist kräftezehrend und aufreibend. Besonders im Winter, wenn die Vegetation nicht üppig ist. In dieser Jahreszeit brauchen wir besonders viel Ruhe um überleben zu können. Jede Form von Störung versetzt uns in Stress und fördert auch Krankheiten.

Hundehalter, die laut hinter ihren Tieren herrufen oder -pfeifen, verschärfen die Situation nur noch

Wir kommen einfach nicht zur Ruhe. Könnt Ihr Störer euch das vorstellen? Unsere Lebensversicherung heißt Wachsamkeit. Unsere Sinne sind besonders fein. Wir reagieren auf jede Veränderung. Wollen wir überleben, haben wir keine andere Wahl, diese Sinne ständig am Start zu haben. Wir haben erfahrene Leittiere, die über einen reichen Erfahrungsschatz verfügen. Sie retten unser Leben oft, aber nicht immer.

 

Niemand von Euch Hundebesitzern ohne Leine, der sich abseits der Wege bewegt, scheint wirklich diese Ereigniskette zu Ende zu denken: Ein aufgescheuchtes, zu Tode erschrecktes und panisch fliehendes Wildtier hat einen angeborenen Fluchtinstinkt. Bei Gefahr, Flucht! Raus aus der Gefahrenzone!

 

Dabei passiert es immer wieder, dass wir, die gehetzten Tiere uns auf der Flucht verletzen, unseren Nachwuchs verlieren, gebissen werden oder eine Straße kreuzen und vor ein Auto laufen. Wer von Euch Hundehaltern hat jemals darüber nachgedacht?

 

Und welcher brachial quer durchs Gelände bretternde Mountainbiker? Wie oft bewegt ihr Euch abseits der Wege im Gelände? Denkt bitte darüber einmal nach und macht Euch das bewusst.

 

Durch Euer Verhalten können auch andere Menschen zu Schaden kommen und einen so schweren Unfall haben, dass sie sterben können. Denkt bitte auch darüber nach.

  Trinkendes Hirschkalb und Muttertier im Winter                                        Foto: Claudia Rapp-Lange

Trifft es ein verunfalltes Muttertier, so ist das Kalb auf sich allein gestellt und wird mit höchster Wahrscheinlichkeit elend zu Grunde gehen. Wer je den verzweifelten Ruf eines Rotwildkalbes oder eines Rehkitzes über Stunden und Tage nach seiner Mutter gehört hat, weiß wie schrecklich die Tiere leiden.

 

Macht Euch das bitte bewusst. Sobald Ihr Euch abseits der Wege oder querwaldein bewegt, bedeutet das für uns, dass ihr durch unsere Wohnungen und Betten lauft. Und jetzt im Winter ist das besonders hart für uns.

 

Bitte leint Eure Hunde an und bleibt auf den Wegen. Wir respektieren Euch in dem wir uns in einen Lebensraum zurückziehen, der nicht der unsere ist. Schützt unsere Privatsphäre! Denkt an die Wildtiere, die sich in die Wälder zurückgezogen haben um zu überleben! Denkt an die Rehe mit Ihren Bambi-Kitzen und an die Wildschweine mit ihren Frischlingen! Ihr habt Familie und wir auch!

 

Natürlicher und in Ruhe gelassener Lebensraum wird für uns alle heutzutage immer weniger.

 

Einige, nicht alle Förster und Waldbesitzer nennen uns nur noch „Schadwild“. Weil wir ihren Wald zerstören, in dem wir die Rinde der Bäume „schälen“ und Baumtriebe verbeißen.

Der Wald von einst ist heute oft nur noch Wirtschaftsfaktor.

 Rotwild auf den Eifelhöhen                                                                                   Foto: NABU/Marion Zöller

Dass uns aber die Menschen in die Wälder gedrängt haben, davon spricht heute niemand mehr. Wir wollen überleben – und glaubt uns, Baumrinde ist echt übel. Nichts geht über Gras! Wenn wir die Wahl hätten, wir würden den Wald sofort verlassen.

 

Wir haben einen Traum: Schafft uns endlich menschenlose Schutzzonen mit Gras- und Wildblumenwiesen. Das fördert nebenbei die Insektenvielfalt und schont die Wälder.

 

Bewegt Eure Rudelführer, die Regierung dazu, die weitere Zerstörung der Eifelwälder und -wiesen durch die Intensivierung der forstlichen Maßnahmen, die Intensivierung der Freizeitnutzung, den weiteren Straßenbau und auch den Ausbau der Windanlagen im Wald zu stoppen.

 

Schützt die letzten wilden Landschaften und Ruhezonen der Wälder und Wiesen der Eifel! Und leint in der Natur Eure Hunde an! Und bleibt auf den Wegen!

 

Wir, das Rotwild und die anderen wilden Tiere, danken es Euch!“

 

 

Ein Bericht von N. Dohmen